Mystik – eine Herausforderung für die Kirche

Mystik ist eine subjektive, religiöse Erfahrung, beeinflusst, aber beinahe unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Im Buddhismus ist Mystik zentraler Bestandteil. Im Christentum wurden Mystiker:innen lange Zeit verfolgt oder geächtet. Heute werden mystische Strömungen in der katholischen Kirche sehr zögerlich akzeptiert, scheinen ihr jedoch immer noch suspekt. Warum dies so ist und ob Mystik die Massenabkehr von den christlichen Kirchen stoppen kann, wollen wir hier näher beleuchten.

Was ist Mystik

Die Definitionen von christlicher Mystik sind vielfältig und – mysteriös. Sie wird als religiöses Erleben beschrieben, das auf „ein Wirklichkeitsganzes“ oder auf eine Gotteswirklichkeit hin ausgerichtet ist. Da ist die Rede von Gotteserfahrung, von Erkenntnis oder gar Erleuchtung, vom Erleben einer göttlichen Realität, die jenseits der rationalen und sinnlichen Wahrnehmung liegt, eben „geheimnisvoll“.

Auch ich kann Mystik nicht hinreichend erklären, aber ich will meine Sicht darauf so einfach beschreiben, dass ich es selbst verstehe: Mystik ist für mich die Erkenntnis, dass der gesamte Kosmos einschließlich mir selbst göttlich ist. Daraus folgt die demütige Einsicht, dass sich das Geheimnis dieses wunderbaren Universums menschlicher Steuerung entzieht und ich selbst nur ein Tropfen im unendlichen Ozean bin. Der Kern dieser Einsicht ist die Abkehr von unserem EGO, hin zum göttlichen Ganzen. Die Einkehr zu unserem Seelengrund z.B. durch Kontemplation wird als Zugang zu mystischen Erfahrungen empfohlen. Letztlich sind mystische Erfahrungen immer subjektiv und beeinflussen das Leben des einzelnen auf sehr unterschiedliche Weise.

Wie wirkt Mystik

War Jesus ein Mystiker? Warum zählt ihn die Wissenschaft nicht dazu? Aus Erzählungen der Evangelisten über Jesus versuche ich, mir sein Leben vorstellen: Jesus zog sich oft zur Meditation zurück, er offenbarte eine tiefe Gotteserfahrung und stellte diese sehr klar über Gesetz und jüdische Lehre. Jesus blieb seiner Seele treu und folgte ihr bis in den Tod – gegen die übermächtigen „Kirchenführer“. Seine Predigten kamen beim Volk an, weil er lebte, was er lehrte, weil er auf Augenhöhe mit dem Volk sprach und weil er sich ständig mit wachem Geist selbst reflektierte. Deshalb sehe ich in Jesus den ersten christlichen Mystiker.

Jesus wurde nicht nur wegen seiner Lehre verfolgt und getötet. Er wurde den religiösen „Machthabern“ gefährlich, weil er ihre Heuchelei, ihre Scheinheiligkeit und die in seinen Augen fragwürdigen Gesetze anprangerte. Im Grunde traf also Geisterfahrung auf Schrift, Lehre und das Ego seiner Kritiker. Spätere Mystiker:innen wie z.B. Meister Eckhart, Hildegard von Bingen, Johannes Tauler und viele andere wurden geächtet oder verfolgt, wenn ihre Lehre den kirchlichen Dogmen entgegen stand. Weniger populäre Mystiker:innen wurden der Häresie bezichtigt, gefoltert oder gar getötet.

Berühmte mystische Figuren wie Meister Eckhart, der im 13. Jahrhundert lebte, haben versucht, die tieferen Dimensionen des Glaubens zu ergründen. Eckhart lehrte, dass die Seele eine unmittelbare Einheit mit Gott erfahren könne, und er betonte die „Gottgeburt in der Seele“ als mystisches Erlebnis. Johannes vom Kreuz und Teresa von Ávila beschrieben ihre mystischen Erfahrungen als “Dunkle Nacht der Seele” oder als ekstatische Vereinigung mit Gott. Solche Erfahrungen waren tiefgreifend und jenseits der Kirchenlehre. Die Erfahrung geht weit über traditionell religiöse Praktiken und Dogmen hinaus und bezeugt die persönliche, nicht vermittelbare Begegnung mit dem Göttlichen.

Dennoch gibt es in der institutionellen Kirche oft eine Skepsis gegenüber mystischen Strömungen. Aber warum hadern die Kirchen mit der Mystik, wenn sie doch offensichtlich tief in der religiösen Erfahrung verankert ist? Wenn mystische Erfahrungen Gott erleben lassen, führen sie doch eher zu einer tiefer gehenden, tragfähigeren Gottesbeziehung als kirchliche Dogmen. Wäre also Mystik nicht im Sinne der Kirchen und sollte durch sie gefördert werden?

Mystik – warum fremdelt die Kirche damit?

Es gibt mehrere Gründe, warum die Kirche mit der Mystik hadert:

  • Individuelle Erfahrung versus kirchliche Autorität
    Mystische Erfahrungen sind zutiefst individuell und subjektiv. Sie entziehen sich der Kontrolle und Regulation durch kirchliche Hierarchien und Lehren. Der direkte Zugang zu Gott ist also bei Mystikern weniger durch die Sakramente oder Dogmen zu vermitteln und auch nicht durch die weisungsgebundenen, konservativen Priester. Im Gegenteil, Mystik steht kirchlicher Lehre und Machtstruktur oft entgegen. Dies wird offensichtlich als Bedrohung für die Autorität der Kirche wahrgenommen.

  • Rationalismus und Theologie
    Mystik stellt die rational erfassbare Lehre über Gott infrage. Während die Theologie darauf abzielt, Glaubenswahrheiten klar zu definieren und dogmatisch zu untermauern, gewährt die Mystik den Blick auf das Unerklärliche, das Geheimnisvolle und das intuitive Erleben Gottes. Diese Transzendenz des Rationalen gilt in theologischen Kreisen als unsicher oder sogar gefährlich, da sie zu einer „irrationalen“ Spiritualität führen kann.

  • Häresieverdacht
    In der Kirchengeschichte wurden viele Mystiker aufgrund ihrer radikalen Erfahrungen oder Aussagen der Häresie verdächtigt oder sogar verurteilt. Meister Eckhart zum Beispiel wurde posthum wegen seiner Lehren verurteilt. Erst Jahrhunderte später wurde er rehabilitiert. Die Gefahr, dass mystische Lehren vom orthodoxen abweichen, lässt die Kirche mit Vorsicht auf mystische Strömungen schauen.

  • Subjektivität der Wahrheit
    Wesensmerkmal der Mystik sind subjektive Erfahrungen. Dies relativiert die Vorstellung einer universalen Wahrheit, wie sie von den Kirchen vertreten wird. Während die Kirche auf eine allgemein gültige Doktrin setzt, die für alle Gläubigen verbindlich ist, führen mystische Erfahrungen zu einer Pluralität von Wahrheitsauffassungen und das gefährdet die Einheit der kirchlichen Lehre.

  • Praktische Herausforderungen für die Seelsorge
    Mystische Erfahrungen können extrem und schwer nachvollziehbar sein. Die persönlichen Erlebnisse lassen sich nur schwer in den kirchlichen Alltag oder die Gemeindeseelsorge integrieren. Die Kirche sieht ihre Aufgabe darin, eine spirituelle Praxis für die Mehrheit der Gläubigen anzubieten, die verständlich, zugänglich und praktikabel ist. Mystik dagegen ist ein innerer, individueller Weg und somit schwer zu institutionalisieren.

Die Kirche der Zukunft

Der bedeutende katholische Theologe Karl Rahner schrieb schon 1966:Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein“. Dies ist eine Mahnung an die christlichen Kirchen. Rahner meinte damit, dass vielen Menschen die traditionelle Religionslehre nicht mehr genügt, die sich in rein rationalen Dogmen und Diskussionen ergeht.

In der katholischen Kirche gibt es Bestrebungen, eine Balance zwischen institutionalisierter Religion und dem Bedürfnis nach persönlicher Gotteserfahrung zu finden. Es gibt ein zunehmendes Interesse an Kontemplation und Meditation. Spirituelle Exerzitien bieten Gläubigen die Möglichkeit, mystische Erfahrungen im Rahmen der kirchlichen Gemeinschaft zu erleben. Ob das gelingt, ohne dabei die institutionellen Strukturen und die Einheit der Kirche zu gefährden, ist zu bezweifeln. „Ein bisschen Mystik“ geht nicht. Das Primat der Kirche steht dem mystischen Weg entgegen. Die Kirche hat also einerseits ein Interesse an mystischen Erfahrungen ihrer Mitglieder, andererseits birgt die spirituelle „Begleitung“ der Kirche auf dem mystischen Weg die Gefahr zu starker Lenkung und „Verwässerung“. Gotteserfahrung ist naturgemäß kaum zu steuern.

Der Weg ist noch weit

Der Weg hin zu einer mystisch geprägten Kirche ist mühsam und langwierig. Was über Jahrhunderte gelehrt wurde und sich in den Köpfen festgesetzt hat, ist nicht in wenigen Jahren zu korrigieren.

Der Weg zur Mystik beginnt bei der Ausbildung der Priester mit stärkerem Fokus auf mystischer Erfahrung, also mehr auf Weisheit statt auf Wissen. Der Priester muss in der Lage sein, das Evangelium nicht nur intellektuell (und zudem auch noch dogmenkonform) auszulegen, sondern mit mystischem Ansatz zu erklären, sodass der Adressat durch die Predigt einen konkreten Impuls für den Alltag hat.

Die Kirchenlehre ist dringend zu entstauben und Dogmen weitgehend zu entsorgen, um mystischer Bewegung Raum zu schaffen. Jesus darf der Kirche Beispiel sein bei der kritischen Betrachtung der Schrift, der Schriftgelehrten, der Gebote und Verbote und der Reflexion seiner selbst.

Der Klerikalismus ist ein weiteres Hindernis auf dem mystischen Weg. Solange Priester und Bischöfe sich selbst über dem Volk sehen und von den Gläubigen auch so gesehen werden, können sie mystische Spiritualität nicht glaubhaft leben und noch weniger weitergeben. (siehe „Klerikalismus-Das Gift lähmt die Kirche“)

Fazit

Ein mystischer Ansatz in der Glaubenslehre, zusammen mit den beschriebenen Veränderungen, hätte nach meiner Einschätzung das Potential, die Kirche den Menschen wieder näher zu bringen, sie glaubwürdiger und damit interessanter zu machen. Den entschiedenen Willen dazu kann ich jedoch auf keiner kirchlichen Hierarchieebene erkennen.

Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein(Karl Rahner)

 

 

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