Das Übel der Gier

Gier kann definiert werden als ein übermäßiges Verlangen nach Besitz, Macht oder Ressourcen, das oft zu einem unersättlichen Streben führt. Diese Begierde kann auf verschiedenen Ebenen auftreten, sei es auf persönlicher, sozialer oder sogar globaler Ebene (z.B. Kolonialisierung, Wettrüstung). Auf persönlicher Ebene äußert sich Gier oft als unstillbares Verlangen nach materiellen Gütern. Dies wollen wir näher beleuchten.

Zufrieden im Sein

Wenn Babys satt sind und nicht gerade von Bauch- oder Zahnschmerzen geplagt werden, sind sie wunschlos – und damit glücklich. Also sind es doch nur unsere Begierden nach immer mehr, die uns unzufrieden machen. Wir wollen haben, das sein haben wir verlernt. Es ist doch paradox: Wir wissen von dem täglichen Überlebenskampf ganzer Völker, die davon träumen, von unseren Müll­halden zu schlemmen, und wir wollen mehr, immer mehr haben.

Das Angebot, das der Fortschritt ermöglicht, macht es uns schwer, zu verzichten. Insofern hat es der mongolische Ziegenhirte einfacher als wir. Er hat nur den Wunsch nach neuen Stiefeln oder nach ei­nem guten Essen. Damit wäre er zufrieden. Sind seine Wünsche erfüllt, wird er wieder unzufrieden. In unserer “zivilisierten“ Gesellschaft ist es nicht anders, nur in größerer Dimension.

Ich glaube sogar, dass dieser Ziegenhirte zufriedener ist als wir, weil er näher bei seinen Wurzeln ist, weniger abgelenkt durch die Befriedigung immer größerer Begierden. Er hat noch mehr Bezug zur Natur. Er lebt in seinem natürlichen Rhythmus, während wir unseren Rhythmus von unseren selbst erfundenen Zeit-Spar-Maschinen bestimmen lassen. Wir haben uns der Wirtschaft, der Indus­trie, dem Konsum ausgeliefert und unser Leben den Dingen untergeordnet. Wie schade! Ich finde es traurig, dass wir diesen Zusammenhang nicht einmal erkennen, geschweige denn versuchen, aus dem Teufelskreis auszubrechen.

Entfremdung macht krank

Nun könnte man einwenden, wir hätten keine andere Wahl. Stimmt das wirklich oder ziehen wir es eher vor, uns mitreißen zu lassen, weil wir nicht mit den Konsequenzen leben wollen? Ein Fachar­beiter in der Autoindustrie will seine Schichtarbeit nicht aufgeben, obwohl sie ihn krank macht. Als Handwerker verdiente er bedeutend weniger. Er könnte seine Familie auch mit halbem Gehalt er­nähren, aber er müsste sich stark einschränken. Wäre das wirklich ein Verlust?

Karl Marx hat dazu sehr treffend gesagt: „Die Entfremdung der Arbeit führt zur Entfremdung des Menschen.“ Das soll wohl heißen, wenn wir unsere Arbeit nicht unserem Rhythmus und unse­ren Bedürfnissen anpassen, sondern wir uns der Arbeit unterordnen, ihr Diktat übernehmen, entfer­nen wir uns von uns selbst. Das erkannte er übrigens schon vor über 150 Jahren. Wie weit haben wir es inzwischen in dieser Hinsicht gebracht? Und mit welchen Folgen für unsere Gesellschaft?

Die konsequente Umsetzung solcher Gedanken würde freilich unsere Gesellschaft verändern: Die Löhne würden mit der Produktivität der Arbeitskraft sinken, Deutschland würde von der Spitze ans Ende der Industrienationen rutschen. Asiatische Länder, allen voran China, würden die Marktlücke schnell füllen – ausgerechnet ein sozialistisches Land, in dem nach dem Programm das Wohl des Arbeiters im Vordergrund stehen soll. Zu alledem wären gar die meisten Psychotherapeuten arbeits­los. Wir wären nicht ärmer, wir hätten nur einen niedrigeren Lebensstandard. Wäre das schlimm? Wären die Folgen vorhersehbar? Sollten wir das Abenteuer wagen? Vermutlich wären wir zufriede­ner und gesünder.

Hören und spüren in uns

Ich habe das Gefühl, dass wir uns zu gering schätzen, zu wenig auf uns selbst achten. Sollten wir nicht viel mehr nachspüren, ob uns unsere Arbeit Spaß macht, uns erfüllt, befriedigt? Sollten wir nicht mehr Zeit füreinander haben, einander unterstützen, unseren Kindern Vorbild sein bei der Fin­dung ihrer Talente, ihrer Stärken?

Das Diktat der Dinge, allen voran des Geldes stellt unsere Werte auf den Kopf: Die Löhne für quali­fizierte Mitarbeiter sind in den fetten Jahren so stark gestiegen, dass sie in vielen Bereichen entwe­der durch Technik ersetzt oder ins billige Ausland verlagert wurden. Da, wo beides nicht geht, zeigt uns der Pflegenotstand die Schattenseite dieser Gier: Den gestressten Pflegern fehlt die Zeit, Alte, Kranke und Behinderte zu füttern. Künstliche Ernährung ist billiger, das lässt sich einfach ausrech­nen.

Die Anzahl prekär beschäftigter Arbeitnehmer ist rasant gestiegen. Fehlt es an der Motivation zur Weiterbildung, an den nötigen Angeboten dazu oder mangelt es an der politischen Bereitschaft, mu­tig gegenzusteuern? Volkswirtschaftler mahnen zwei Prozent Wirtschaftswachstum an, sonst könnte das ganze System zusammenbrechen. Wohin wird uns solcher Irrsinn schließlich führen?

Achtsam sein

Es geht schon lange nicht mehr ums Überleben, sondern um die Befriedigung unserer Wünsche. Und weil wir uns wegen alledem kaputt arbeiten, müssen wir in den Urlaub fahren, all inclusive auf Haiti oder in Thailand. Unser Leben dreht sich in erster Linie um Wunschbefriedigung, das Geld dazu und die Arbeit, von der das Geld kommt. So machen wir uns zu Sklaven unserer Wünsche und wundern uns, dass eine nie da gewesene Schar von Psychotherapeuten einer dramatisch steigenden Masse depressiv Kranker fast hilflos gegenüber steht.

Da kommt mir ein Zitat von Laotse in den Sinn: „Reich ist, wer weiß, dass er genug hat.“

Wir arbeiten mit der falschen Einstellung, wir hecheln von einem Event zum anderen und wir sor­gen uns zu viel. Kurz: Wir leben zu unachtsam. Und weil wir instinktiv merken, dass etwas nicht stimmt, tun wir vordergründig alles für unsere Gesundheit. Statt unseren Lebensstil zu überdenken, kasteien wir uns mit Diäten, kaufen teure Nahrungsergänzungsmittel, essen Körner und schlucken Medikamente in nie da gewesener Dimension. Und dann powern wir uns im Fitnessstudio aus oder rennen mit Stöcken durch den Wald. Glückliche, entspannte Gesichter sehe ich dabei selten.

Wunschbefiedigung

Begehrlichkeiten wollen befriedigt werden, aber sie befriedigen nicht. Die Industrie hat das schon lange begriffen und weckt immer neue Wünsche in uns. Haben wir sie befriedigt, stehen unzählige neue Wünsche auf dem Werbeplan, die zu unseren Gelüsten werden sollen. Das wird nie ein Ende nehmen. In den ersten Nachkriegsjahren ging es unseren Eltern und Großeltern nur ums Überleben. Aber sie sagten selbst, dass sie trotz der enormen Schwierigkeiten und Entbehrungen zufriedener waren als in den vergleichsweise „fetten“ Siebzigern. Da war Psychotherapie beinahe noch ein Fremdwort.

Was passiert eigentlich, wenn ein Arbeiter eine Million im Lotto gewinnt? Er wird vielleicht ein Haus bauen, ein Auto kaufen und noch etwas auf die Seite legen. Die akuten Geldsorgen sind damit vom Tisch, sofern er welche hatte. Und dann, nach zwei, drei Jahren? Er wird andere Wünsche haben, nur auf höherem Niveau.

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