Gotteserfahrung

Wenn jemand von seiner Gotteserfahrung spricht, wirkt das auf mich stark übertrieben, gar abgehoben. Vielleicht liegt das daran, dass in mir das Bild einer mysteriösen Erscheinung entsteht, die zu mir spricht. Man könnte es auch Erleuchtung nennen, aber mit derartigen Begriffen kann ich nichts anfangen. Sie sind mir zu abstrakt. Zeit also, hinter dieses Bild zu schauen: Was ist eine Gotteserfahrung, wie erkenne ich sie, kann ich „Gotteserfahrung“ beeinflussen und wem wird sie zuteil?

Was ist Gotteserfahrung?

Ich will von dem verklärenden Bild weg, das für eine Gotteserfahrung so oft strapaziert wird. Wörtlich genommen kann ich Gott erfahren. Und Gott zu erfahren, ist vermutlich tiefgreifender als an ihn zu glauben. Es ist ein Erlebnis! Aber was heißt es konkret, Gott zu erfahren? Schließlich hat niemand direkt mit Gott gesprochen und ist ihm nie persönlich begegnet.

Gott zu erfahren, muss also eine Erkenntnis sein, die sich aus unserer Lebenserfahrung speist. Erkenntnis kann ein langer, manchmal auch schmerzhafter Prozess sein oder uns als „Gedankenblitz“ buchstäblich treffen. Allmählich oder plötzlich geht uns dann ein Licht auf, wird uns etwas klarer. Dann schauen wir mit anderem Blick auf unser Leben, auf die Welt. Unser ach so schlimm erlebtes „Schicksal“ sehen wir plötzlich als Segen, als einen Teil im Heilungsprozess. Dass es einer höheren Macht bedurfte, dieses Dasein in einem bis ins kleinste Detail perfekten Universum zu erleben oder schlicht das Wunder der Schöpfung kann uns beim Gang durch die Natur klar werden.

Gotteserfahrung ist im Grunde Lebenserfahrung, sofern aus dieser Lebenserfahrung auch Erkenntnis erwächst. Dabei geht es nicht etwa um die eine Erkenntnis, die uns prägt. Im Idealfall geht es um immerwährendes Erkennen.

Wie erfahre ich Gott?

Etwas weniger pathetisch lautet die Frage: Wie komme ich zur Erkenntnis, dass es einen Gott gibt (und dass er es nur gut mit mir meinen kann) oder wie ein erfülltes Leben funktioniert? Rückblickend kann ich sagen, dass mir Gott nicht durch die Suche nach ihm erkennbar wurde. Das ist auch einleuchtend: Nur wenn ich eine klare Vorstellung von dem habe was ich suche, kann ich auch finden. Habe ich diese Vorstellung jedoch, brauche ich nach Gott nicht mehr suchen.

Das Studium heiliger Texte, Philosophie und das Gespräch mit anderen Suchenden oder Lehrern sind wertvolle Ressourcen auf dem Weg zu Erkenntnis und helfen, den eigenen Geist zu schärfen. Allerdings ist auch dabei wichtig, zwischen Dogma und wahrer spiritueller Weisheit zu unterscheiden. Wahre Erkenntnis wächst oft aus einer kritischen und offenen Auseinandersetzung mit den Texten und Lehren.

Immerwährende Erkenntnis setzt immerwährendes Wachsein voraus. Ich denke, es braucht die Offenheit, Gott zu erfahren und die stete Bereitschaft, unser Leben, unser Handeln, unser Sein, unsere Umwelt genauer und kritischer zu betrachten. Nur dann sind wir imstande, die wundersamen Fügungen in unserem Leben zu erkennen und die Perfektion der Schöpfung zu würdigen. Das gelingt nicht immer in unserem hektischen Alltag. Es bedarf eines gewissen Abstandes zu sich selbst und dabei sind Meditation und Kontemplation gute Möglichkeiten, den Blick auf das Wesentliche zu richten.

All das oben Beschriebene bereitet den Boden, ist aber keine Garantie für Erkenntnis. Letztlich ist es Gnade, Gott zu erfahren, unser Sein zu verstehen. Es ist ein Geschenk, worauf wir keinen Anspruch haben. Unser Glaube an Gott, unsere Lebenserfahrung, unsere Offenheit dem Leben gegenüber und unsere Wachheit sind gute Voraussetzungen, aber keine Gewähr dafür, Gott zu erkennen.

Wie erkenne ich überhaupt, ob mich Gott mit einer Erkenntnis gerade angesprochen hat oder ob ich mir das nur einrede, weil ich von etwas überzeugt bin?

Erkenntnis oder Einbildung?

Die Frage, wie ich wahre Erkenntnis von meiner Einbildung unterscheide, ist für mich noch schwerer zu beantworten als die Frage nach dem Weg zur Erkenntnis. Es gibt schließlich keine messbaren Kriterien für eine Erkenntnis, noch schwieriger wird das bei der Gotteserfahrung. Die nüchterne Prüfung der nachfolgenden Kriterien kann eine Hilfe sein:

  • Klarheit und Beständigkeit: Wahre Erkenntnis ist in der Regel klar, beständig und von innerem Frieden begleitet. Einbildung oder subjektive Fantasie hingegen kann verwirrend und inkohärent sein. Sie kann schwanken und von Ängsten oder Wünschen beeinflusst werden. Wahre Erkenntnis führt eher zu einem Gefühl von innerer Ruhe, Weisheit und einer tieferen Verbindung zur Welt und zum Göttlichen.
  • Verbindung zur Realität: Wahre Erkenntnis führt zu einer tieferen Verbindung mit der Realität. Einbildung kann uns von der Realität entfernen oder dazu führen, dass wir Dinge sehen oder hören, die nicht objektiv sind. Wahre Erkenntnis basiert auf einer tiefen und umfassenden Wahrnehmung, die uns mit der Welt und den anderen Menschen in Einklang bringt.
  • Prüfung durch kritische Reflexion: Meine Erkenntnisse und Sichtweisen mit anderen Menschen zu teilen und dabei kritisch zu reflektieren, kann sehr hilfreich sein. Wenn meine Gedanken dabei ihre Tiefe und Wahrhaftigkeit bewahren, ist es ein gutes Zeichen für wahre Erkenntnis.
  • Ethik und Mitgefühl: Wahre Erkenntnis führt häufig zu einer vertieften Ethik und einem stärkeren Mitgefühl für andere. Einbildung oder egozentrierte Erfahrungen hingegen können dazu führen, dass wir uns von anderen abgrenzen oder uns selbst in den Mittelpunkt stellen. In vielen religiösen und spirituellen Traditionen wird wahre Erkenntnis als eine Erkenntnis verstanden, die das Wohl aller Menschen und das Universum im Blick hat.
  • Prüfung durch Zeit: Wahre Erkenntnis bleibt mit der Zeit stabil und wird nicht leicht in Zweifel gezogen. Einbildung ist oft flüchtig und kann sich im Laufe der Zeit ändern oder sich als unzutreffend herausstellen. Die Wahrheit entfaltet sich langsam und wird durch die Jahre hinweg in deinem Leben bestätigt.

Fazit

Gotteserfahrungen sind meist sehr persönlich und nicht immer rational erklärbar. Ich verstehe sie als Erkenntnis, die aus der Lebenserfahrung erwächst. Diese Erkenntnis kann ich nicht aktiv herbeiführen, aber ich kann mich um gute Bedingungen bemühen, die Erkenntnis gedeihen lassen: Wach sein, selbstkritischer und offener Blick auf das Leben, kritische Auseinandersetzung mit Bibeltexten usw. Schließlich ist immer zu prüfen, ob es sich um eine echte Erkenntnis handelt oder um eine fixe Idee, die ich gerne als „Erkenntnis“ aufwerten möchte.

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