Spirituell erwachsen werden

Spirituelles erwachsen werden – Weg der inneren Befreiung

Über Jahrhunderte prägte die Kirche das Bild einer absoluten Wahrheit, die Menschen in eine geisti­ge Abhängigkeit führte. Der Glaube an diese Wahrheiten verhinderte Selbstverantwortung, Selbst­bewusstsein und Erkenntnis. Um spirituell erwachsen zu werden, gilt es, uns von dogmatischen Fes­seln, Ängsten und überholtem Ballast zu befreien. Wahre Veränderung kann nur in geistiger Freiheit stattfinden.

Was bedeutet Spiritualität?

Die Definition von Spiritualität ist so vielfältig wie die Menschen, die sich damit auseinandersetzen. Häufig wird Spiritualität mit Religiosität verwechselt, wobei von christlicher, islamischer oder bud­dhistischer Spiritualität gesprochen wird. Für mich jedoch ist Spiritualität das subjektive Erleben ei­ner nicht rational erfassbaren, transzendenten Realität, die uns mit etwas Größerem als uns selbst verbindet – sei es Gott, das Universum, die Natur oder eine innere Erfahrung. Es ist das Erleben von Geist. Ich fasse es als „Geisterfahrung“ zusammen.

Religion kann unsere Spiritualität beeinflussen, ist aber für den Geist nicht notwendig. Ich will aber gerne zugeben, dass meine Definition eher eigenwillig ist. Manche Philosophen oder Theologen se­hen sogar einen Zusammenhang mit Dogmatik: Für von Balthasar ist Spiritualität die „subjektive Seite der Dogmatik“. Für den Theologen U.Winkler ist Dogmatik das Knochengerüst, Spiritualität das Fleisch, womit er darauf hinweisen will, dass Menschen nicht durch „reflexionslose Spiritualität verdummen“ sollten. Das halte ich allerdings für eine sonderbare These, denn für mich ist Spiritua­lität Reflexion und ich behaupte eher das Gegenteil, dass nämlich Reflexion bzw. Spiritualität vor Verdummung durch Dogmen und vor geistiger Stagnation schützt.

Spiritualität kann uns zu innerer Ruhe, persönlicher Entwicklung und einem besseren Verständnis von uns selbst und der Welt führen – und das ganz ohne religiöse Begründung. Wir können geistige Erfahrungen durch Meditation, Achtsamkeit, Naturerlebnisse oder philosophische Reflexionen in­tensiv erleben. Spiritualität ist eine aktive Bewusstseinsebene, für die wir uns öffnen müssen, wenn wir unser innerstes Wesen erfahren wollen. Doch diese Erfahrung scheint mir eher ein Geschenk als eine Fähigkeit zu sein.

Möglichkeiten durch spirituelle Emanzipation

Spirituelles Erwachsenwerden ist ein Prozess, der mit Achtsamkeit und innerer Gelassenheit einher­geht. In vielen Lebenssituationen fordert uns spirituelle Reife heraus, unsere Emotionen zu beob­achten, anstatt uns von ihnen überwältigen zu lassen. Meditation und Selbstreflexion helfen dabei, eine innere Ruhe zu kultivieren, die uns ermöglicht, Krisen mit Weisheit zu begegnen und uns nicht von äußeren Turbulenzen aus der Bahn werfen zu lassen.

Mit zunehmender spiritueller Reife wächst das Bewusstsein für unsere Verantwortung gegenüber anderen und der Welt. Ein spirituell Erwachsener erkennt die Verbundenheit allen Lebens und ver­steht, dass unsere Handlungen Auswirkungen auf andere haben. Dies führt zu einem mitfühlenderen Lebensstil, sei es in sozialer Verantwortung, ökologischem Handeln oder im liebevollen Umgang mit anderen. Spirituelle Reife äußert sich in einer tiefen Verbundenheit mit dem Leben und den Mit­menschen.

Oft führt uns unser Ego in die Irre, da es unsere Emotionen dominiert – Emotionen, die selten weise Ratgeber sind. Wenn wir jedoch in Kontakt mit unserer Seele oder dem Göttlichen in uns sind, se­hen wir klarer. In diesem Zustand des „Seins“, in dem das Ego in den Hintergrund tritt, können wir uns als Beobachter „von Außen“ betrachten und einen neutralen Blick auf die Dinge werfen. Diese Perspektive schärft unsere Sinne, unseren Geist, unsere Präsenz und unser Urteilsvermögen.

Im Alltag begegnen uns immer wieder Situationen, in denen Präsenz und ein neutraler Blick gefragt sind. Diese Fähigkeit wird umso wichtiger, wenn wir uns mit unserer religiösen Praxis auseinander­setzen: Wie feiern wir den Gottesdienst? Was beten wir, und warum? Wie sinnvoll sind unsere Ritua­le? Sehen wir Gott als eine höhere, unergründliche Instanz oder akzeptieren wir die kirchliche Lehre als von Gott gegeben? Ich stoße häufig auf Dogmen, die für mich unverständlich oder wider­sprüchlich wirken. Wenn sich mir Weisheiten nicht durch Reflexion erschließen, muss ich mir geist­liche Hilfe holen. Doch ich bin vorsichtig dabei, vielleicht sogar voreingenommen. Wenn ich keine schlüssige Erklärung bekomme, ist es notwendig, mich von überkommenen Gedanken, die andere vor Jahrhunderten formulierten, zu distanzieren.

Spirituell erwachsen werden – Der Weg zur Selbstbestimmung

Spirituelles Erwachsenwerden bedeutet, sich von der Vorstellung zu lösen, dass eine äußere Instanz – sei es die Kirche oder eine andere Autorität – die absolute Wahrheit für uns definiert. Es geht viel­mehr darum, unsere eigene innere Stimme zu finden, die Verbindung zu unserer eigenen spirituellen Essenz herzustellen und Verantwortung für unser Denken und Handeln zu übernehmen. Wir sind oft gefangen in überholten Konzepten, erlernten Mustern und falschen Lehren. Es erfordert Mut, Selbstvertrauen und den Willen, sich von altem Ballast zu befreien, sich von gewohnten Denkwei­sen zu trennen und sich von falschen Lehren und Lehrern zu verabschieden.

Wahre Spiritualität beginnt dort, wo der Mensch aufhört, blind Dogmen zu folgen, und an­fängt, selbst zu denken und seiner Seele zu vertrauen.

Würde die Kirche Spiritualität in diesem Sinne lehren, könnte sie eine sinnvolle Rolle in der moder­nen Gesellschaft spielen. Doch spirituell erwachsene Menschen sind nicht mehr so einfach zu len­ken. Sie könnten jedoch auf Augenhöhe mit den Priestern in die Gemeindearbeit eingebunden wer­den und zur Erneuerung der Kirche beitragen. Eine Institution, die Offenheit, Reflexion und indivi­duelle spirituelle Erfahrungen fördert, anstatt Kontrolle und Dogmen durchzusetzen, könnte wieder an Relevanz gewinnen – doch dafür sind tiefgreifende Reformen notwendig.

Selbstbewusstsein gibt uns Sicherheit, doch je mehr wir uns in dieser Sicherheit wiegen, desto we­niger sind wir offen für andere Perspektiven oder alternative Wahrheiten. Wahre Spiritualität bleibt stets offen und neutral. Der wache Geist ist insbesondere gegenüber dem eigenen Ego ge­fordert, um nicht in Selbstgerechtigkeit zu verfallen, sondern sich dem Fluss des Lebens zu öffnen und authentisch zu bleiben.

Selbstbewusstsein gibt uns ein gutes Gefühl von Sicherheit. Darin liegt aber auch eine Gefahr: Je si­cherer wir uns sind, umso weniger sind wir empfänglich für andere Argumente, alternative Bot­schaften, Warnungen. Der wache Geist ist also in erster Linie meinem Ego gegenüber gefordert, sonst wähne ich mich selbstgerecht auf rechtem Wege und bin in Wahrheit auf dem Holzweg.

Spirituell erwachsen werden, aber wie?

Spirituelles erwachsen werden ist ein lebenslanger Prozess, der nicht durch äußere Meilensteine bestimmt wird, sondern durch innere Entwicklung. Es erfordert Selbstreflexion, Loslassen von alten Mustern, Entwicklung von Mitgefühl und das Streben nach einem bewussten und authentischen Le­ben. Wer diesen Weg beschreitet, erfährt eine tiefe innere Freiheit und eine nachhaltige Erfüllung, die über das Materielle hinausgeht.

In der Jugend orientierten wir uns eher an den Vorstellungen der Gesellschaft, der Familie oder der Kultur. Doch äußere Erfolge oder materielle Sicherheit allein reichen nicht, um wahre Erfül­lung zu finden. Spirituell Erwachsenwerden bedeutet, sich diese existenziellen Fragen zu stellen: Wer bin ich wirklich? Was ist mein Platz in der Welt? Was gibt meinem Leben Bedeutung? Diese Reflexion führt oft zu einem bewussteren und authentischeren Leben.

Werden wir uns der eigenen Kraft bewusst und suchen die Verbindung zum Göttlichen nicht mehr außen. Wer sich von dogmatischen Zwängen befreit, wird erkennen, dass wahre Spiritualität nicht in Vorschriften oder Glaubenssätzen liegt, sondern in der Freiheit des Geistes und der Tiefe der ei­genen Erfahrung.

Kritisches Hinterfragen von Dogmen: Jede „unerschütterliche Wahrheit“, die uns aufgedrängt wird, verdient es, kritisch hinterfragt zu werden. Warum sollte eine Institution das alleinige Recht auf spirituelle Wahrheiten besitzen? Lassen wir uns nicht von Angst oder Schuldgefühlen leiten, sondern gehen mutig den eigenen Weg.

Innere Erfahrung über äußere Autorität stellen: Wahre Erkenntnis entspringt der direkten inne­ren Erfahrung. Meditation, Achtsamkeit und bewusstes Erleben können tiefere Einsichten vermit­teln als jahrhundertealte Schriften. Meditation, Tagebuch schreiben und Achtsamkeitsübungen hel­fen, sich selbst besser zu verstehen und zu erfahren.

Offenheit für andere spirituelle Konzepte: Die Wahrheit ist vielschichtig und kann sich in unter­schiedlichen Lehren, Philosophien und Erfahrungen manifestieren. Offenheit für diese unterschied­lichen Perspektiven erweitert unser Bewusstsein und ermöglicht tiefere Erkenntnisse. Wir müssen akzeptieren, dass nicht alles kontrollierbar ist, und uns dem Fluss des Lebens anvertrauen. Das be­deutet, loszulassen und sich hinzugeben.

 

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