Ist die Kirche noch zu retten?

So soll es nicht weiter gehen! Meine persönliche Prognose für eine Kirche der Zukunft: Bis zum Jahr 2100 wird sich eine dynamische, spirituelle Bewegung mit zeitgemäßer Ethik entwickeln. Sie wird interreligiös offen und demokratisch verfasst, von starren Glaubenssätzen frei und lebendig sein. Ob diese Bewegung aus einer christlichen Kirche hervorgeht oder neu geboren wird, hängt von der Innovationsfähigkeit der etablierten Kirchen ab.

Die Anamnese

Die westeuropäische Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend verändert. Säkularisierung und Individualisierung haben die Bindung an religiöse Institutionen geschwächt. Immer mehr Menschen gestalten ihr Leben unabhängig von kirchlichen Vorgaben, suchen Sinn und Werte jenseits traditioneller Dogmen.

Diese Freiheit birgt jedoch auch Verluste: Gemeinsame religiöse Bezugspunkte erodieren, spirituelle Orientierung wird brüchig. Der Fokus auf Konsum, Karriere und Selbstoptimierung verdrängt oft religiöse Praxis – nicht aus Ablehnung, sondern aus Überforderung durch die Vielzahl an Möglichkeiten und Reizen.

Anspruch und Wirklichkeit: Die Kluft wächst

Ein zentrales Problem ist die Diskrepanz zwischen kirchlicher Lehre und dem Werteverständnis der modernen Gesellschaft – besonders bei Fragen von Sexualität, Geschlechtergerechtigkeit oder familiären Lebensformen. Vielen Gläubigen fehlt der Anschluss an ihre Kirche.

Hinzu kommen belastende Skandale wie der Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen – und vor allem der unzureichende Umgang mit diesen Verbrechen. Das Vertrauen ist schwer beschädigt, der Frust groß.

Auch strukturell verlieren viele Gemeinden ihre Anbindung. Großpfarreien erzeugen Distanz statt Nähe, Seelsorge wird zu Verwaltung. Wo früher persönliche Beziehungen und geistliche Heimat waren, entstehen Lücken – oder Leere.

Spirituelle Suche jenseits der Kirche

Gleichzeitig nimmt das Interesse an alternativen spirituellen Wegen zu. Achtsamkeit, Meditation, Naturverbundenheit oder philosophische Ansätze gewinnen an Beliebtheit. Für viele ist der Kirchenaustritt kein Ende der Spiritualität, sondern der Beginn eines individuellen Weges zu mehr Tiefe.

Dabei zeigt sich: Unsere Gesellschaft leidet weniger an einem Mangel an Glauben – sondern an einer Überfülle äußerer Ablenkung. Der Ruf nach innerer Sammlung ist da, aber er braucht Räume, in denen er gehört wird. Eine geistliche Erneuerung setzt Begeisterung voraus – und die wächst selten aus Vorschrift, sondern aus Begegnung. Ohne echtes inneres Feuer gibt es keinen geistigen Aufbruch. Begeisterung ist der Schlüssel – für jeden Wandel, für jede spirituelle Erneuerung. Ja, es ist heute schwer, Menschen für Gott zu begeistern. Aber mit veralteten Formen und starren Ritualen erreichen die Kirchen kaum noch jemanden. Vielleicht wäre es an der Zeit, dem Geist mehr Raum zu geben als dem Verstand.

Wo Hoffnung aufblüht

Bei aller berechtigten Kritik gibt es auch Glanzlichter. Viele engagierte Christinnen und Christen bringen mit neuen Ideen frischen Wind in ihre Gemeinden – teils unterstützt, teils geduldet, manchmal auch gegen Widerstände. In Jugendkirchen, ökumenischen Projekten, Citypastoral oder digitalen Formaten wird Kirche als lebendig, offen und nahbar erlebt.

Zahlreiche Ehrenamtliche tragen mit Leidenschaft die Arbeit vor Ort. Der Wunsch nach Sinn, Gemeinschaft und Transzendenz lebt weiter – und gerade junge Menschen suchen wieder nach Werten, nach Haltung, nach einer Spiritualität, die berührt. Diese Aufbrüche zeigen: Die Kirche ist noch nicht am Ende. Aber sie muss bereit sein, sich neu zu erfinden – mit den Menschen, nicht über sie hinweg.

Kirchenstruktur am Scheideweg

Das zentralistische, fast monarchische Führungsmodell der katholischen Kirche steht im wachsenden Spannungsfeld zwischen tradiertem Selbstverständnis und den Erwartungen der Gläubigen. In vielen Gemeinden entfernt man sich längst vom römischen Diktat – was die Frage aufwirft, ob diese Struktur überhaupt noch zukunftsfähig ist.

In den Gemeinden kann nur noch sporadisch eine Eucharistiefeier stattfinden. Die Zeiten, in denen der Pfarrer seine „Schafe“ kannte und er die erste Anlaufstelle in Sachen Seelsorge war, gehören der Vergangenheit an. Die Kirchen laufen Gefahr, zum sakralen Dienstleister zu werden. Gleichzeitig werden die Selbstverwaltung der Pfarreien, aber auch lokale Initiativen notgedrungen wichtiger und alternative spirituelle Gemeinschaften gewinnen an Bedeutung. Die gegenwärtige Entwicklung stellt die langfristige Relevanz der beiden großen Kirchen in Deutschland ernsthaft in Frage.

Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung

Seit 1972 liefert die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung – kurz KMU – alle zehn Jahre tiefgehende Einblicke in das Verhältnis von Gesellschaft und Religion. 2023 erschien die sechste Ausgabe – mit neuen Schwerpunkten, mutigen Analysen und wichtigen Hinweisen auf die Zukunft der Kirchen. Erstmals wurden dabei nicht nur evangelische Christen und Konfessionslose, sondern auch katholische Gläubige befragt. Neu sind zudem Themen wie Klimaschutz, Demokratieverständnis und gesellschaftliches Engagement.

Wie steht es heute um die Religiosität der Menschen in Deutschland? Warum kehren so viele der Kirche den Rücken? Und was müssten die Kirchen tun, um Vertrauen zurückzugewinnen? Die Untersuchung füllt ein eigenes Buch. Ich will hier nur einige markante Erkenntnisse herausgreifen:

  • Zwei Drittel der evangelischen und drei Viertel der katholischen Kirchenmitglieder tendieren zum Kirchenaustritt.
  • Katholik/-innen treten vor allem aus Wut und Zorn auf die eigene Kirche aus.
  • Ein deutlicheres Eingeständnis von Schuld der Kirchen angesichts von Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit würde 77 Prozent aller Menschen, die einen Austritt erwägen, zum Verbleib bewegen. 66 Prozent der Befragten würden in der Kirche bleiben, wenn die Kirchen sich radikal reformieren würden.
  • Die Mehrheit der Bevölkerung stuft sich selbst als nicht religiös ein.
  • Über alle Konfessionen hinweg herrscht eine große Zustimmung zur ökumenischen Orientierung und Zusammenarbeit zwischen den Kirchen.

Detaillierte Untersuchungsergebnisse und Folgerungen daraus findest Du auf der Seite der EKD: https://kmu.ekd.de/

Die Kirchen haben längst erkannt, dass ihre Zukunft nur durch eine tiefgreifende Erneuerung auf allen Ebenen gesichert werden kann. Die Ergebnisse der KMU sind interessant, die Folgerungen zutreffend. Und doch: Es bewegt sich scheinbar nichts. Bei meiner Recherche bin ich auf gute Ideen und erfrischende Denkansätze gestoßen. Das zeigt mir, dass die Verantwortlichen um Veränderung bemüht sind und sich die Köpfe darüber zerbrechen, wie sie ihrem Auftrag gerecht werden können; wie sie wieder Interesse bei den Menschen wecken können, ohne Gottes Geist zu verwässern.

Warum aber bleibt das erhoffte Signal des Aufbruchs aus? Warum spüren die Gläubigen keine echte Veränderung? Dieses Gefühl betrifft nach meiner Beobachtung beide großen Konfessionen. Die Verantwortung für den gefühlten Stillstand liegt also nicht allein beim Vatikan. Vielmehr braucht es einen Wandel im Denken, mehr Mut und mehr Gottvertrauen – bei den Bischöfen, bei den Priestern und nicht zuletzt auch bei den Gläubigen selbst. Nur so kann Erneuerung wirklich gelingen.

Die Therapie

Die Kirche der Zukunft wird nicht mehr zentral gesteuert, sondern wächst von unten: aus lebendigen Gemeinden, getragen von Begeisterung und geistiger Freiheit. Dogmen werden hinterfragt, Strukturen reformiert. Der Glaube lebt aus Begegnung, nicht aus Verwaltung.

Diese Vision ist keine bloße Reform, sondern eine radikale Neuausrichtung. Ihr Umfang wäre beispiellos in der Geschichte des Christentums. Einzelmaßnahmen reichen nicht aus. Ob eine weltweite Erneuerung der Kirche möglich ist, bleibt fraglich – vor allem angesichts der strukturellen Beharrungskräfte der römischen Kurie.
Wahre Erneuerung braucht geistige Freiheit – Freiheit von Denkverboten, Tabus und den oft lähmenden Vorgaben aus dem Vatikan. Vielleicht unterstützt uns der Pfarrer, indem er diesen Weg mitgeht oder ihn zumindest duldet. Vielleicht ist sogar der Bischof bereit, gemeinsam mit den Menschen vor Ort neue Wege zu gehen.
Beginnen könnten wir in Westeuropa, wo der Reformbedarf am dringendsten ist – insbesondere in Deutschland. Die deutschen Bischöfe stehen vor einer Entscheidung von historischer Tragweite: Wollen sie den Weg in eine neue kirchliche Wirklichkeit mitgehen – auch ohne Rückendeckung aus Rom – oder zusehen, wie das ihnen anvertraute Erbe weiter zerfällt?

Eine Erneuerung innerhalb der bestehenden Kirche ist allemal realistischer als der Aufbau einer völlig neuen, religiösen Bewegung. Aber beide Wege sind herausfordernd und verlangen vollen Einsatz.

Mut zur Kritik – und zur Veränderung

Manche mögen mir bei diesen Gedanken Ketzerei vorwerfen. Doch ohne ehrliches Hinterfragen, ohne die Bereitschaft, kirchliches Handeln und überkommene Glaubenssätze kritisch zu beleuchten, wird weder eine echte Erneuerung der Kirche noch eine lebendige Glaubenspraxis möglich sein. Auch Jesus stellte sich gegen die religiösen Autoritäten seiner Zeit. Ohne seinen Widerstand gäbe es das Christentum nicht. Unser Maßstab kann daher nur einer sein: Jesus selbst – nicht eine noch so ehrwürdige Institution.

Es geht nun darum, die Menschen zurückzugewinnen, die sich mit gutem Grund abgewandt haben. Vor allem die junge Generation verdient neue Angebote – glaubwürdig, inspirierend und auf Augenhöhe. Die Zeit ist reif für einen neuen Aufbruch.
Die Frage ist nicht mehr, ob sich die Kirche verändert, sondern wie radikal innovationsbereit sie sich zeigt – und das wird existenzentscheidend sein.

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