Angst – die Fessel der Kirche

Angst – die Fessel der Kirche

Die Geschichte der Menschheit ist geprägt von einer tiefen Sehnsucht nach Sinn, Orientierung und der Verbindung zu einer höheren Macht. Seit zwei Jahrtausenden beansprucht die katholische Kir­che für sich, den wahren Weg dorthin zu kennen und hat diesen Anspruch oft mit Gewalt verteidigt. Doch beständiger Wandel erfordert kontinuierliche Anpassung. Ist die Kirche dazu in der Lage, wenn sie neue Erkenntnisse, gesellschaftlichen Fortschritt und alternative Sichtweisen ignoriert? Kann sie ihrer zentralen Aufgabe, der Seelsorge, gerecht werden, solange Angst ihr wesentliches Machtinstrument bleibt?

Der Absolutheitsanspruch

Spätestens seit dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 betrachtete die katholische Kirche ihre Lehre als absolute Wahrheit. Im Mittelalter festigte sich diese Haltung besonders durch die enge Verbindung von Kirche und Staat. Mit dem Dictatus Papae (1075) beanspruchte Papst Gregor VII. die höchste Autorität über weltliche Herrscher und geistliche Angelegenheiten. Die dogmatischen Entscheidun­gen des Konzils von Trient (1545–1563) festigten den Anspruch weiter, indem sie die katholische Lehre gegen die Reformbewegungen der Protestanten abgrenzten.

Im 19. Jahrhundert erreichte dieser Absolutheitsanspruch seinen Höhepunkt mit der Verkündigung des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (1870). Die katho­lische Kirche etablierte sich endgültig als höchste moralische und theologische Instanz. Mit Ihrem Anspruch auf die Lehre absoluter Wahrheit, gar auf göttliche Offenbarung ihrer Dogmen, stellte sich die Kirche im Laufe ihrer Geschichte sowohl über andere Religionen wie auch über die Wis­senschaft und sie vertrat ihren Standpunkt mit unvorstellbarer Grausamkeit. So zog der unselige Ab­solutheitsanspruch, gepaart mit unersättlicher Machtgier, eine breite Blutspur durch Europa und den nahen Osten.

Immanuel Kant bemerkte in seiner Religionsphilosophie die Notwendigkeit, dass jede Religion ei­nen gewissen Absolutheitsanspruch braucht, um ihre Gültigkeit zu behaupten. Tatsächlich beanspru­chen die meisten Weltreligionen für sich, die einzig wahre, weil zum Heil führende Lehre zu vertre­ten.

Beleuchten wir die christliche Lehre genauer, so wird schnell klar, dass die gedanklichen Konstruk­te einiger weißer Männer (Unfehlbarkeit, Unbefleckte Empfängnis, Marias Himmelfahrt, Prädesti­nation [Vorherbestimmung], Transsubstantation [Wandlung von Brot und Wein], Zölibat, Verweige­rung der Frauenordination usw.) keiner kritischen Betrachtung und schon gar keiner unabhängigen, wissenschaftlichen Überprüfung standhielten. Wenn die Lehre also nicht im friedlichen Diskurs zu verteidigen ist, muss sie als absolut und sogar als „göttliche Offenbarung“ unangreifbar gemacht werden.

Angst als Mittel der Kontrolle

Kritik an der katholischen Kirche und an ihrer Lehre gefährdete nach Meinung der Kirchenführer die gesamte Institution und wurde nicht geduldet. Unliebsame Schriften wurden zensiert oder gleich ganz verboten. In den schlimmsten Zeiten wurden Kritiker als Ketzer verbrannt, gefoltert, verbannt, geächtet und so in Schach gehalten. Das Schüren von Ängsten vor dem strafenden Gott war mindestens genauso wirksam wie die Androhung körperlicher Gewalt bis hin zum Tod.

Die großen Religionen haben sich über Jahrhunderte hinweg als Vermittler zwischen Mensch und Gott positioniert. Die katholische Kirche stellte sich als einzig legitime Institution dar, die über das Heil des Menschen entscheidet. Wer den kirchlichen Dogmen nicht folgte, wurde mit Verdammnis, Hölle und ewiger Strafe bedroht. So wurde Angst zum zentralen Werkzeug der geistigen Kontrolle. Auch mir wurde diese Angst als Kind noch eingeimpft.

Anstatt Menschen zu eigenständigem Denken und kritischem Hinterfragen zu ermutigen, lehrte die Kirche blinden Glauben und Unterwerfung. Fragen nach der Wahrheit wurden nicht nur unter­drückt, sondern oft mit Gewalt bekämpft. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die das kirchliche Welt­bild in Frage stellten, wurden jahrhundertelang negiert. Diese dunklen Kapitel der Kirchengeschich­te zeigen, dass es weniger um die Erleuchtung der Menschen ging als vielmehr um Machterhalt.

Die Kirche vereinte also weltlichen Einfluss und sakrale Macht. Die Ehrfurcht vor Geistlichen und/oder die Angst vor der Amtskirche war so groß, dass viele Gläubige schon den Zweifel an der Rechtschaffenheit von Priestern oder an der Lehre als Sünde empfanden (was übrigens zu dem aus­ufernden Klerikalismus und der Vertuschung der zahllosen Missbrauchsfälle führen konnte).

So ist es zu erklären, wie die katholische Kirche über zwei Jahrtausende hinweg eine einheitliche Lehre bewahren konnte, von der Abspaltung der Ostkirche und der Protestanten abgesehen. Die Angst der Menschen war für die Kirchenfürsten offensichtlich der Garant für Stabilität und Konti­nuität des Christentums. Freilich war der Preis dieser fragwürdigen „Einheit“ hoch.

Wer sich selbst im Besitz der Wahrheit wähnt, sucht nicht nach Höherem. Absolute Überzeugungen und der Glaube, das Richtige zu tun, machten die Kurie immun gegen alternative Weltbilder, andere Glaubensentwürfe und konstruktive Kritik. Die scheinbare Sicherheit auf hohem Thron führte (und führt immer noch) zu Arroganz und Intoleranz gegenüber anderen. Und weil die Kirche es sich er­lauben konnte, ging sie äußerst brutal gegen Andersdenkende bei Inquisition oder Missionierung in­digener Völker vor.

Zaghafte Öffnung

Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) begann eine Öffnung der Kirche hin zu einem dialogfähigeren und weniger exklusiven Ansatz. Die Kirche öffnete sich behutsam. Sie erkannte die Wahrheitsanteile in anderen Religionen an und förderte den interreligiösen Dialog. Für die Kirchen­führer war das zweite Vatikanum ein Meilenstein, auch wenn die folgenden Päpste, Wojtyla und Ratzinger, die Kirche mit ihrem rigoros konservativen Kurs wieder um Jahrzehnte zurückwarfen. Heute betont Papst Franziskus verstärkt die Notwendigkeit von Barmherzigkeit, Toleranz und öku­menischer Zusammenarbeit. Dennoch bleibt der Absolutheitsanspruch in der Form bestehen, dass die katholische Kirche sich weiterhin als einzige vollkommene Offenbarung der göttlichen Wahrheit betrachtet.

Diese Haltung führt unweigerlich zu Spannungen mit der modernen Gesellschaft. Themen wie Ge­schlechtergerechtigkeit, Sexualmoral und der Umgang mit anderen Religionen sind zentrale Kon­fliktpunkte. Die Weigerung, sich diesen Herausforderungen anzupassen, beschleunigt die Austritts­welle aus der Kirche.

Erneuerung von unten

Die katholische Kirche hat wiederholt bewiesen, dass sie nicht von innen heraus grundlegenden Wandel herbeiführen kann. Die Hierarchie der Institution ist träge, und die Machthaber im Vatikan scheinen den Kontakt zu den Gläubigen weitgehend verloren zu haben. Hinzu kommt, dass die In­teressen und die Glaubensinhalte in den Ländern der Welt viel zu verschieden sind für eine einheit­liche Lehre. Ein wirklicher Wandel ist also nur national zu bewerkstelligen bei international größt­möglichem gemeinsamen Nenner.

Ein echter Wandel kann nur von unten kommen – durch die Gläubigen selbst. Doch ist die Zeit da­für reif? Viele Kirchenmitglieder sind unzufrieden mit der starren Kirchenführung und ihren über­kommenen Dogmen, doch nur wenige wagen es, offen Widerspruch zu äußern. Zu tief sitzt die jahr­hundertelang eingeimpfte Ehrfurcht vor der Institution. „Das tut man eben nicht!“ steckt noch in vielen Köpfen. Diese Denkweise der Anteil der Laien am immer noch grassierenden Klerikalismus.

Heute riskiert niemand mehr sein Leben, wenn er die Kirche kritisiert. Doch während die Angst der Gläubigen schwindet, wächst die Angst der Kirchenführung vor echter Veränderung. Erst wenn eine kritische Masse bereit ist, mutig ihre Stimme zu erheben und gegebenenfalls neue, vielleicht sogar eigene Wege in ihrer Gemeinde zu beschreiten, wird sich etwas ändern. Dazu müssen wir Ballast abwerfen, alte Zwänge hinter uns lassen und uns von geistigen Fesseln befreien, die unser Denken einschränken.

 

 

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