Du sollst (nicht)…

Biebel

Im Zentrum christlicher Lehren stehen die Zehn Gebote und das Neue Testament. Die Zehn Gebote gelten als grundlegende moralische Richtlinie; sie bieten ethische Orientierung, die bis heute gilt. Die Evangelien hingegen erzählen nicht nur von Jesu Leben, sondern stellen ihn als moralisches Vorbild dar – als Verkörperung von Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Vergebung. Doch nach meiner Beobachtung werden diese Kernbotschaften an entscheidenden Stellen dogmatisch ausgelegt.

Jesu Beispiel: Menschlichkeit vor Gesetzestreue

Die kirchliche Lehre wird von manchen Gläubigen nicht als Einladung zum Mitdenken, sondern eher als moralische Disziplinierung und zur Rechtfertigung von Vorschriften empfunden. Besonders die Fixierung auf Schuld, Sünde und Strafe kann den Blick auf die Botschaft von Liebe und Barmherzigkeit im Evangelium einschränken und überlagert seinen eigentlichen humanistischen Kern.

Die Botschaft Jesu lässt sich kaum in dogmatische Raster zwängen. Seine Lehre war nicht starr, sondern radikal menschlich. Als er am Sabbat einen Kranken heilte und dafür von den Pharisäern kritisiert wurde, entgegnete er: „Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat.“ Das ist keine Kleinigkeit – es ist eine fundamentale Verschiebung der religiösen Perspektive. Nicht das Gesetz steht über dem Menschen, sondern der Mensch ist Maßstab und Zentrum göttlicher Zuwendung.

Jesu Lehre fordert uns dazu auf:

• Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen,
• mit Herz und Verstand zu urteilen,
• nicht blind Autoritäten zu folgen,
• althergebrachte Riten kritisch zu hinterfragen,
• und das göttliche Gebot in unser Herz zu schreiben, statt es nur mechanisch zu befolgen.
Diese Haltung steht in deutlichem Kontrast zu mancher Kirchenpraxis, in der Gehorsam oft höher geschätzt wird als Gewissen und Eigenverantwortung.

Die zehn Gebote – topaktuell

Die Zehn Gebote zählen zu den bekanntesten ethischen Leitlinien der Menschheit. Sie sind im Alten Testament verankert und nach Kirchenlehre Teil der göttlichen Offenbarung an Mose. In ihrer Ursprungszeit gaben sie einem nomadischen Volk in unsicherer Welt klare Regeln für das Zusammenleben – sowohl im Verhältnis zu Gott als auch im Miteinander der Menschen.

Zur Überlieferung der zehn Gebote finden sich unterschiedliche Überlieferungen und Deutungen. In der Bibel kursieren zwei unterschiedliche Versionen. Verschiedene Konfessionen zählen und beschreiben die Gebote unterschiedlich. Unten stehende Gebote beziehen sich auf die katholische und lutherische Version. Ob sie ursprünglich Mose selbst oder späteren Redakteuren zugeschrieben werden, ist theologisch und historisch umstritten. Tatsächlich haben sich die zehn Gebote über Jahrhunderte nach und nach herausgebildet, etwa zwischen 1000 und 500 v.Chr. und auch das ist nicht gesichert. Aber das spielt für mich keine Rolle. Ich verstehe sie als das älteste „Grundgesetz“ – und als weise Empfehlungen.

Die Zehn Gebote sind mehr als ein religiöses Relikt. In ihrer zeitgemäßen Auslegung liefern sie eine wertvolle Orientierung für individuelles Verhalten und gesellschaftliches Zusammenleben. Über religiöse Grenzen hinweg laden sie dazu ein, über Werte wie Verantwortung, Gerechtigkeit, Rücksicht, Wahrheit und Aufrichtigkeit neu nachzudenken – und das macht sie auch im 21. Jahrhundert hochrelevant. Einige Gedanken dazu, was sie uns heute sagen können:

1. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Ursprünglich ein Bekenntnis zum Monotheismus. Auch wenn viele Menschen heute nicht religiös sind, lässt sich dieses Gebot als Warnung vor modernen „Götzen“ deuten: Konsum, Geld, Macht, Ruhm oder Digitalisierung. Es ruft zur inneren Orientierung auf und erinnert daran, was im Leben wirklich zählt – Integrität, Menschlichkeit und Sinn.

Du sollst dir kein Bildnis machen. (Katholiken und Lutheraner zählen es zum ersten Gebot). Damals ging es um das Verbot von Götzenbildern und die Ablehnung einer personifizierten Gottesvorstellung. Heute fordert das Gebot zur Reflexion über Projektionen und Idealisierungen auf. In Zeiten von Social Media, Schönheitswahn und Markenverherrlichung erinnert es uns daran, hinter das Oberflächliche zu schauen und kritisch zu hinterfragen, was wir „anbeten“ bzw. idealisieren – sei es das perfekte Leben auf Instagram oder ein bestimmtes Menschenbild.

2. Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen.
Dieses Gebot lässt sich als allgemeiner Aufruf zu sprachlicher Verantwortung verstehen. Auch im säkularen Kontext mahnt es zum achtsamen Umgang mit Sprache – ob im Umgangston, in der öffentlichen Debatte oder bei Verschwörungstheorien, die religiöse Begriffe instrumentalisieren.

3. Du sollst den Sabbat heiligen.
In einer Leistungsgesellschaft mit ständiger Erreichbarkeit erinnert dieses Gebot an das Recht auf Ruhe, auf Freizeit, auf Zeit mit der Familie und für sich selbst. Es hat eine hohe gesellschaftliche Relevanz im Kontext von Work-Life-Balance, Burnout-Prävention und nachhaltigem Lebensstil. Das Augenmerk liegt hier auf „freie Zeit“ für die Familie und uns selbst – jenseits von Handy, Computerspielen, TV und jeder Ablenkung von unserer Seele. So gesehen ist das Sabbatgebot eine Einladung zur bewussten Gestaltung unserer Ruhezeiten.

4. Du sollst Vater und Mutter ehren.
Es geht nicht nur um Gehorsam, sondern mehr noch um Respekt gegenüber den Generationen. Es mahnt zu einer Kultur der Wertschätzung in Familie und Gesellschaft gegenüber älteren Menschen – besonders in Zeiten von Altersarmut, Pflegekrise und Generationenkonflikten. Andererseits sollten auch ältere Menschen mit den Jungen respektvoll umgehen und sie in Weisheit und Gelassenheit ihre Erfahrungen machen lassen – Fehler eingeschlossen.

5. Du sollst nicht töten.
Dieses Gebot bleibt auch heute elementar. Es erweitert sich im heutigen Verständnis auf die Ablehnung von Gewalt generell – auch im Denken und in Worten. Es betrifft Themen wie häusliche Gewalt, Mobbing, Kriege, Waffengewalt oder auch Umweltzerstörung und Tierzuchtindustrie, wenn man „Tötung“ weiter fasst.

6. Du sollst nicht ehebrechen.
Ehebruch war damals ein schwerwiegender Loyalitätsbruch innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft. Heute erinnert das Gebot an die Bedeutung von Verlässlichkeit, Ehrlichkeit und Treue in zwischenmenschlichen Beziehungen. Es gilt nicht nur in der Ehe, sondern auch in Freundschaften, Partnerschaften und in der Gesellschaft allgemein, wo Vertrauensbruch oft große Schäden anrichtet.

7. Du sollst nicht stehlen.
Neben dem klassischen Diebstahl umfasst das heutige Verständnis dieses Gebots auch Wirtschaftskriminalität, Steuerhinterziehung, Ausbeutung und Datendiebstahl. Es mahnt zu Gerechtigkeit, Fairness und Respekt vor dem Besitz und der Leistung anderer.

8. Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
In einer Welt voller Desinformation und Fake News ist dieses Gebot aktueller denn je. Es fordert Ehrlichkeit, Verantwortung in der Kommunikation und Integrität. Das betrifft auch Medien, Gerichte, soziale Netzwerke und jede Form der Meinungsäußerung. Ganz allgemein benenne ich es als „Aufrichtigkeit“.

9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau.
Jesus vertieft in der Bergpredigt die ethische Dimension der Gebote, indem er nicht nur die Tat, sondern schon die innere Haltung beurteilt (vgl. Mt 5,28: „Wer eine Frau lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch begangen“). In diesem Licht rät das Gebot zu spiritueller Achtsamkeit über unsere Gedanken, Fantasien und Absichten.

In Zeiten der MeToo-Bewegung bekommt das Gebot eine neue Tiefe: Es warnt davor, Menschen als Mittel zur Befriedigung eigener Wünsche zu sehen, besonders in Konstellationen mit Machtgefälle (z. B. Chef – Mitarbeiterin).

10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut.
Dieses Gebot zielt auf Neid und Gier – zwei Triebkräfte vieler gesellschaftlicher Spannungen. In einer Gesellschaft, die stark auf Wettbewerb und Vergleich basiert, ruft es zur Genügsamkeit und inneren Zufriedenheit auf.

Einladung zum gelingenden Miteinander

Die Zehn Gebote bieten, ebenso wie die Evangelien, auch heute eine erstaunlich zeitgemäße Orientierung. Ihre Verinnerlichung liegt im Interesse jedes Einzelnen – und zugleich im Interesse der Gemeinschaft. Daher ist es Aufgabe sowohl des Staates als auch der Kirchen, ihre Bedeutung zu vermitteln – jedoch nicht belehrend, sondern inspirierend als Einladung zum gelingenden Leben. Die Zehn Gebote sind dabei weniger starre Vorschriften als vielmehr zeitlose Empfehlungen für ein respektvolles und solidarisches Miteinander. Denn letztlich gilt: Die Einsicht, dass Regeln dem Einzelnen nützen, ist ein stärkeres Argument als jede Drohung oder Angst.

 

 

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